Kann eine "faktische Verwaltungsrätin" eine GV einberufen? Das Bundesgericht setzte sich kürzlich mit dieser Frage auseinander.
Im Zuge eines aktuellen Entscheids des Bundesgerichts (4A_387/2023) wurde eine wesentliche Frage der schweizerischen Unternehmenspraxis geklärt: Darf eine sog. "faktische Verwaltungsrätin", deren Mandat bereits abgelaufen ist, eine Generalversammlung (GV) einberufen? Die Antwort des Bundesgerichts ist klar: "Nein ".
Was bedeutet "faktische Verwaltungsrätin"?
Eine faktische Verwaltungsrätin ist eine Person, die zwar nicht mehr (oder nie) förmlich als Verwaltungsrätin durch die Generalversammlung gewählt wurde, jedoch (weiterhin) in einer ähnlichen Funktion agiert, sei es durch ihre Handlungen oder ihren Einfluss auf die Gesellschaft. Eine solche faktische Organschaft entsteht insbesondere dann, wenn ein formell gewähltes Mitglied des Verwaltungsrates nach Ablauf der Amtszeit nicht rechtzeitig oder nicht gültig neu gewählt wird, die betroffene Person aber weiterhin operativ tätig bleibt.
In seinem Entscheid vom 2. Mai 2024 (4A_387/2023) hat das Bundesgericht bestätigt, dass das Konstrukt der faktischen Organschaft vor allem im Zusammenhang mit haftungsrechtlichen Fragen von Relevanz ist. So haftet eine faktische Verwaltungsrätin für ihre Handlungen wie ein formell korrekt gewählter Verwaltungsrat, ohne dass ihr die formellen Rechte und Befugnisse eines gewählten Mitgliedes des Verwaltungsrats zustehen.
Rechtliche Befugnisse zur Einberufung einer Generalversammlung
Im vorliegenden Fall stellte sich die Frage, ob eine faktische Verwaltungsrätin eine Generalversammlung einberufen könne, um diese über ihre eigene Wiederwahl entscheiden zu lassen. Die Vorinstanz und das Bundesgericht kamen beide zum Ergebnis, dass dies nicht zulässig ist, da die Befugnis zur Einberufung einer Generalversammlung ausschliesslich einem formell gewählten Verwaltungsrat zusteht. Ist das Mandat abgelaufen und kein neuer Verwaltungsrat gewählt worden, entsteht ein Organisationsmangel, der behoben werden muss, ohne dass ein faktisches Organ die rechtliche Lücke füllen darf.
Dieses Ergebnis begründet das Bundesgericht damit, dass die Zuerkennung der Befugnis zur Einberufung einer Generalversammlung an eine faktische Verwaltungsrätin deren Stellung gegenüber einem ordnungsgemäss gewählten Verwaltungsrat unzulässigerweise angleichen würde. Dies sei jedoch rechtlich nicht vertretbar, da die formelle Wahl durch die Generalversammlung die unverzichtbare Grundlage für die Einberufungskompetenz bilde.
Die Frage der stillschweigenden Verlängerung von Verwaltungsratsmandaten
Ein weiteres zentrales Thema, das in diesem Zusammenhang relevant ist, betrifft die stillschweigende Verlängerung von Verwaltungsratsmandaten. Hierzu hat das Bundesgericht in einem früheren Urteil (BGE 148 III 69) klargestellt, dass sich ein Verwaltungsratsmandat nicht automatisch verlängert, wenn innerhalb von sechs Monaten nach Ablauf des Geschäftsjahrs keine ordentliche Generalversammlung stattgefunden hat. Diese Klarstellung war notwendig, da in der Praxis oft Unsicherheit herrschte, ob Verwaltungsratsmitglieder nach Ablauf ihrer Amtszeit weiterhin im Amt bleiben, wenn keine Generalversammlung durchgeführt wird.
Dieses Urteil hat unmissverständlich klargemacht, dass ein Verwaltungsratsmandat nur durch die Generalversammlung verlängert werden kann und es kein "Hineinrutschen" in ein faktisches Mandat gibt, bloss weil keine Neuwahl erfolgt. Dies hat weitreichende Folgen für Unternehmen, die es versäumen, rechtzeitig eine Generalversammlung abzuhalten und die Mitglieder des Verwaltungsrates (wieder-)zuwählen.
Folgen einer unzulässigen Einberufung
Die unzulässige Einberufung einer Generalversammlung durch eine faktische Verwaltungsrätin kann für die Gesellschaft mit wesentlichen Konsequenzen verbunden sein:
Generalversammlungen, die auf eine ungültige Weise zustande gekommen sind, sind nicht bloss anfechtbar, sondern nichtig. Dies gilt insbesondere auch, wenn die Generalversammlung, wie im vorliegenden Entscheid, von einem unzuständigen Organ einberufen wird. Das Bundesgericht bestätigt damit die bisherige Rechtsprechung und beurteilt die Einberufung einer Generalversammlung durch eine nicht rechtzeitig wiedergewählte (und damit nicht mehr im Amt stehende) Verwaltungsrätin als nichtig.
Was tun, wenn die Wiederwahl verpasst wurde?
Falls es die Gesellschaft versäumt hat, rechtzeitig die Wiederwahl des Verwaltungsrats durchzuführen, bietet das Schweizer Obligationenrecht (OR) dennoch Wege, eine Generalversammlung gültig durchzuführen und den Verwaltungsrat wiederzuwählen.
Am einfachsten ist dabei die auch vom Bundesgericht vorgeschlagene Durchführung einer Universalversammlung im Sinne von Art. 701 OR. Dem "faktischen Verwaltungsrat" ist es dabei erlaubt, auf die Durchführung einer solchen Universalversammlung hinzuarbeiten. Bei einer Universalversammlung müssen sämtliche Aktionäre einer Gesellschaft an der Generalversammlung vertreten sein, wobei dann eine Generalversammlung ohne Einhaltung der für die Einberufung geltenden Vorschriften abgehalten werden kann. Ist es nicht möglich, sämtliche Aktionäre an einen Tisch zu bringen, bleibt das Recht der Aktionäre, vom zuständigen Gericht die Einberufung einer Generalversammlung aufgrund des vorliegenden Organisationsmangels zu verlangen (Art. 731b OR).
Fazit: Klare Trennung zwischen faktischem und formellem Verwaltungsrat
Der eingangs erläuterte Entscheid des Bundesgerichts zeigt deutlich, dass die Befugnisse eines faktischen Verwaltungsrats klar begrenzt sind und das Konstrukt des "faktischen Verwaltungsrats" vielmehr aufgrund haftungsrechtlicher Überlegungen geschaffen wurde. So können faktische Verwaltungsräte nicht die Rolle eines formell gewählten Verwaltungsrats übernehmen, insbesondere dann nicht, wenn es um die Einberufung einer Generalversammlung geht. Die dennoch von einem nicht (mehr) rechtmässig gewählten Verwaltungsrat einberufene Generalversammlung ist nichtig.
Unternehmen sollten sich daher ihrer Verantwortung bewusst sein, rechtzeitig Generalversammlungen abzuhalten und Verwaltungsratswahlen durchzuführen. Versäumnisse in diesem Bereich führen nicht nur zu rechtlichen Problemen, sondern gefährden auch die Handlungsfähigkeit der Gesellschaft.